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Darf Unachtsamkeit sein?

    Doris Iding - Darf Unachtsamkeit sein

    Darf Unachtsamkeit sein?

    22/05/2023

    Darf Unachtsamkeit sein?

    Darf ich als Achtsamkeitslehrerin quer, frei oder kritisch denken?

    Vor einigen Tagen erhielt ich eine Seminaranfrage für einen MBSR-Kurs über WhatsApp, die ich sehr kurz und knapp beantwortete, so wie ich es häufig auf WhatsApp tue. Die Frau, die an einem meiner Seminare interessiert war, schrieb mir darauf hin, dass ich ihr „sehr unachtsam“ geantwortet hätte.

    Sie hätte sich gewünscht, dass ich ihr ausführlich auf ihre Fragen zum MBSR-Kurs geantwortet hätte. Hätte sie das Kursangebot auf meiner Website hingegen achtsam durchgelesen, hätten sich die Fragen bereits geklärt. Sich selbst gestand sie die Unachtsamkeit scheinbar zu. Mir hingegen nicht.

    Ein Bekannter, mit dem ich mich heute über Politik unterhielt, schaute mich strafend als, als ich ihm offen meine sehr kritische Meinung über die Regierung und die Migrationspolitik mitteilte. Er meinte: „Du bist doch eine Achtsamkeitslehrerin. Wie kannst du nur so wertend denken?“

    Für mich sind solche Aussagen wie „Du bist aber unachtsam“ oder „Du bist doch eine Achtsamkeits-, oder -Meditationslehrerin“ unfaire Totschlagargumente. Darf ich als Achtsamkeitslehrerin und als Meditationslehrerin nicht kurz angebunden reagieren? Darf ich als Achtsamkeitslehrerin nicht mehr quer, frei oder kritisch denken? Muss ich 24 Stunden, rund um die Uhr immer freundlich, offen und wertfrei sein? Nein! Das muss ich nicht und kann ich auch nicht.

    Ich tue mein Bestes, dem Menschen, der mir gerade, begegnet meine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Achtsamkeit verstehe ich dabei als Werkzeug, wahrzunehmen, was gerade in meinem Bewusstsein und in meinem Umfeld passiert. Ohne der Basis von Wohlwollen, nach dem Guten in uns zu streben und danach zu handeln, hat Achtsamkeit für mich nur eine geringe Bedeutung. Nur in der Kombination von Achtsamkeit und Wohlwollen (Selbst-Annahme, Liebe etc.) können wir unser volles Potenzial ausschöpfen. So das Ideal. Die Absicht ist für mich schon eine wichtige und zentrale Ausrichtung meiner Gedanken und Handlungen.

    So passiert  es mir trotzdem immer wieder, dass ich anfange während eines Telefonats mit einer Freundin die Spülmaschine ein- oder auszuräumen. Asche auf mein Haupt. Ja, es ist unachtsam und passiert mir trotzdem immer wieder. Zum Leidwesen meiner Freundinnen.

    Zum Glück habe ich diesen Anspruch an Perfektion und Selbstoptimierung losgelassen. Den Anspruch, 24/7 achtsam zu sein, erfülle ich nicht. Ich kenne auch niemanden, der ihn erfüllt. Du?! Aber häufig können wir nur aus Fehlern lernen. Fehler zu machen, gehört zum Leben. Ich versuche, mit Hilfe der Achtsamkeit bewusster und reflektierter zu werden. Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, freue ich mich sehr darüber, wie viel ich schon verändern konnte. Wie viel achtsamer ich heute bin, als vor 10 oder 20 Jahren. Aber ich werde bestimmt nicht zu einer fehlerfreien Funktionsmaschine mutieren. So kann es passieren, dass, sinnbildlich gesprochen, ab und zu eine Tasse zu Bruch gehen kann.

    Auf dem zur Achtsamkeit – Unachtsamkeit bemerken

    Wenn ich mit Teilnehmern des MBSR- oder Meditationskurses praktiziere und sie nach der Meditation frage, wie es ihnen ergangen ist, sagen sie häufig: „Ich war nicht achtsam. Mein Geist ist die ganze Zeit abgeschweift.“ Meine Antwort darauf ist häufig die folgende: „Achtsamkeit besteht für mich darin zu bemerken, wenn ich unachtsam bin.“ Und dann zitiere ich Master Han Shan, einen Meditationslehrer: „Wenn du während einer Meditation hundert Mal bemerkst, dass du unachtsam warst, dann war es eine gute Meditation.“ Und ich füge ergänzend häufig dazu: „Und wenn du es zweihundertmal bemerkst, dann war es eine sehr gute Meditation.“

    Genauso verhält es sich für mich im Alltag. Für mich ist es wichtiger zu bemerken, wann ich unachtsam war, als dass ich versuche, rund um die Uhr achtsam zu sein. Nehme ich den Druck der Selbstoptimierung raus, werde ich mir selbst gegenüber weniger streng, entspannter und lebendiger.

    Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich manchmal verpeilt sein kann. Sehr sogar. Meine Kursteilnehmer freuen sich darüber, wenn sie aus meinem Mund hören, dass ich bewerte, wütend werde, mich über das Wetter ärgere, zwischendurch den Glauben an eine bessere Zukunft verliere, in der Meditation einschlafe oder meine Wohnung im Chaos versinkt. Das macht mich zum Menschen. Zur Lernenden. Zur Anfängerin, die ich gerne bin und auch gerne bleiben. Denn wie heißt es so schön: Im Auge einer Expertin gibt es nur noch wenige Möglichkeiten. Aus der Sicht des Anfängers hingegen viele Sichtweisen.

    In diesem Sinne grüßt dich die unachtsame Achtsamkeitslehrerin

    Doris Iding