Zur Besinnung kommen: Dr. Jon Kabat-Zinn im Interview
Wie kann uns gelingen, in einer Zeit gelingen, in der die meisten von uns unter beruflichem Druck und oftmals auch privatem Stress stehen, körperlich und mental mehr in eine Balance zu kommen? Eine Möglichkeit stellt die Meditation, die Praxis der Achtsamkeit!
Dr. Jon Kabat-Zinn, der Gründer und Direktor der Stress Reduction Clinic, Professor für Medizin an der Universität in Worcester, Massachusetts, sowie Direktor des Instituts für Achtsamkeit in Medizin, Gesundheitsvorsorge und Gesellschaft, weiß, dass es möglich ist: Wir können gelassener durch diese herausfordernden Zeiten gehen! Aber, wie sage ich immer wieder so gerne: Achtsamkeit fängt da an, wo Bequemlichkeit aufhört!
Gelingt es uns hingegen, ein entsprechendes Maß an Achtsamkeit zu kultivieren, dann können wir den Alltagsstress bewältigen und uns für unser eigenes Wohlergehen und für einen tiefen Heilungsprozess sowohl für uns selbst als auch für die Heilung aller Wesen öffnen. Jon Kabat-Zinn, der seit vielen Jahrzehnten selbst meditiert und Yoga praktiziert und Meditationslehrer ist, weiß um die wohltuende und heilbringende Wirkung der Achtsamkeit. Er entwickelte eine Meditationsform, die so genannte »Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit« (MBSR). Mit dieser Methode gelang es ihm in den letzten 19 Jahren, die MBSR weltweit sowohl in Krankenhäusern, Universitätskliniken und Gesundheitszentren, aber auch in wirtschaftlichen und politischen Institutionen zu etablieren, wo sie erfolgreich praktiziert wird. Dadurch kann nicht nur der einzelne Mensch auf körperlicher und geistiger Ebene Heilung erfahren, sondern die Praxis der Achtsamkeitsmeditation kann die Menschen darin unterstützen, dass wir auch als Gesellschaft immer mehr zur Besinnung kommen und dadurch tiefere Heilung in unser Leben bringen. Im Rahmen des Buchprojekts „Quellen der Heilung“ habe ich Dr. Jon Kabat-Zinn im Jahre 2007 interviewt.
Wie lange muss man Ihrer Ansicht nach meditieren, um davon nachhaltig zu profitieren?
Jon Kabat-Zinn: Ich gebe keine Anweisungen, wie lange man meditieren »muss«. Aber wenn Sie in eine unserer Kliniken kommen, in der das Programm zur Praxis der Achtsamkeit praktiziert wird (die so genannte Mindfulnes-Based-Stress-Reduction (MBSR), Stressbewältigung durch Achtsamkeit), dann müssen Sie sich damit einverstanden erklären, 45 Minuten am Tag, sechs Tage die Woche über acht Wochen zu praktizieren. Ansonsten bin ich der Meinung, dass jeder Mensch selbst herausfinden muss, welche Praxis für ihn persönlich die richtige ist und wie lange er meditiert. Darüber hinaus muss jeder Mensch auch für sich die richtige Balance zwischen einer formalen und einer informellen Meditationspraxis entdecken. Für mich ist Yoga zum Beispiel eine formale Praxis der Meditation, wobei es keine »richtige« Art gibt, sie zu praktizieren. Die informelle Meditationspraxis hingegen dauert das ganze Leben. In einem gewissen Sinne bedeutet die informelle Meditationspraxis, von Moment zu Moment wachsam und achtsam zu sein, egal in welcher Situation man sich befindet. Meine persönliche Definition von informeller Praxis lautet, nicht nur von Moment zu Moment achtsam zu sein, sondern dass man von Moment zu Moment achtsam ist, ohne zu bewerten.
Worin genau besteht für Sie der Unterschied zwischen Achtsamkeit und der Achtsamkeit ohne Bewertung? Denn wenn ich von Moment zu Moment wirklich achtsam bin, dann dürfte ich eigentlich nicht bewerten.
J. K.-Z.: Das stimmt. Wenn ich wirklich absolut achtsam bin, dann existiert kein Gedanke, so dass ich auch nicht mehr bewerten kann. Aber das ist leichter gesagt als getan. Denn bei einer Vielzahl von Menschen verhält es sich so, dass sie, auch wenn sie aufmerksam sind, immer noch von Millionen Gedanken gequält werden, wobei die meisten sehr wertend sind, oftmals auch noch sehr subtil. Wenn man zum Beispiel ein Geräusch hört, ist es sehr schwer, nur unmittelbar das Geräusch zu hören. Hört man beispielsweise ein Zwitschern, glaubt man, es handele sich um einen Vogel. Dabei hört man in dem Moment aber gar keinen Vogel, sondern nur ein Geräusch, das nach Zwitschern klingt. Aber der Verstand schaltet sich sofort ein, wenn er dieses Geräusch hört und sagt: Vogel! Das heißt, dass wir die meiste Zeit nicht unmittelbar in Kontakt mit unseren Sinnen sind. Der Titel meines neuen Buches »Zur Besinnung kommen« sagt zum Beispiel, dass wir durch die Meditation lernen, uns darüber bewusst zu werden, wie wir die Welt erleben. Das heißt, dass wir nur über die Sinne die Welt erfahren. Es gibt aber viel mehr als nur die fünf Sinne wie das Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und Schmecken. So kann man Achtsamkeit durch unmittelbares, wirkliches Sehen kultivieren. Man kann lernen, wirklich zu sehen und nicht nur durch die Augen des konditionierten Menschen. Das Gleiche gilt für die Wahrnehmung der Welt durch die anderen Sinne. Man kann unmittelbar hören, und nicht nur durch die Ohren eines konditionierten Menschen.
Aber um dies zu können, bedarf es eines sehr hohen Maßes an Achtsamkeit. Aber brauchen wir nicht unsere wertenden Sinne, um in der Welt zu überleben?
J. K.-Z.: Natürlich. Aber wenn wir die Bewertung durch die Sinneseindrücke ausschalten, heißt dies nicht, dass wir dadurch dumm werden. Es geht darum, dass wir von dem Schwarz-Weiß-Denken wegkommen und durch die Praxis der Achtsamkeit die ganzen Grauabstufungen zwischen Schwarz und Weiß erkennen. Durch die Achtsamkeit erlangen wir ein hohes Maß an Unterscheidungsfähigkeit, statt in den Bewertungen stecken zu bleiben, die sich folgendermaßen äußern: »Ich mag dieses und jenes nicht. Ich hasse dieses, ich liebe jenes« und so weiter Wenn wir so urteilen, dann handelt es sich einfach um ein unbewusstes Greifen des Verstandes nach Urteilen und Bewertungen.
Zu Ihren Vorträgen kommen viele Schulmediziner. Erfahrungsgemäß sind sie der Meditation gegenüber kritisch eingestellt, oder?
J. K.-Z.: Vor dreißig Jahren waren die Schulmediziner noch sehr verschlossen. Mittlerweile aber lehren wir die Medizinstudenten, den Patienten mit Respekt und Würde zu begegnen und sie nicht nur als einen Körper zu betrachten, der von Krebszellen befallen ist. Wir unterrichten sie darin, dass die Bedeutung der Krankheit für den einzelnen Menschen sehr wichtig ist. Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass man einem Arzt nicht beibringen muss, seine Patienten mit entsprechendem Respekt und angemessener Achtung zu behandeln, aber leider muss man es doch tun. Aus diesem Grund braucht die Medizin eine radikale Reform. Hippokrates sagte zum Beispiel, dass es am allerwichtigsten sei, einem Menschen keinen Schaden zuzufügen. Wenn man einen Menschen ohne Respekt und Würde einfach nur als einen Krebspatienten behandelt und ihm die Hoffnung nimmt, dann ist dies genau die falsche Praxis, die zu einem großen Problem für alle Beteiligten wird. In Ihrem Buch »Zur Besinnung kommen« schreiben Sie, dass wir aufhören sollen, uns als Opfer einer Situation zu fühlen. Aus diesem Grund geraten wir immer wieder in dieselben Situationen.
Dazu habe ich eine Frage: Ein Freund von mir, ein Psychotherapeut, meditiert und macht regelmäßig Yoga. Er hat einen Vater, der eine narzisstische Persönlichkeit hat und ihn immer wieder aufs Neue provoziert. Der Freund hat nun das Gefühl, dass er nicht aus dieser Situation herauskommen kann – trotz Meditation und Yoga. Viele Menschen erfahren irgendein Leid im Alltag, mit dem sie immer wieder konfrontiert werden, auch wenn sie meditieren. Heißt das, dass dieser Freund und alle anderen, die Probleme haben, nicht wirklich meditieren?
J. K.-Z.: Meditation ist nicht das, wovon viele Menschen glauben, was es zu sein scheint. Meditation ist nicht die Antwort auf alle Fragen, die wir im Leben haben. Man kann Meditation natürlich auch als eine Flucht verwenden so wie vieles andere auch. Es ist natürlich schwierig, etwas zu diesem Freund zu sagen, da ich ihn und seine Geschichte nicht persönlich kenne. Aber in Kürze zusammengefasst würde ich sagen: Er muss aufwachen und zur Besinnung kommen! Er muss erkennen, dass sich auf diese Weise nie etwas ändern wird. Es klingt so, als würde dieser Freund sein eigenes Unglücklichsein mit dieser Situation füttern. In gewisser Weise hat er sein wahres Selbst verlassen. Somit stellt sich die Frage: Wie kann er in Kontakt mit seinem Vater sein, ohne von ihm missbraucht zu werden? Man kann sich befreien, aber dazu muss man die eigenen Gewohnheiten erkennen, die einen zu einem Gefangenen dieser Gewohnheiten machen. Bei Meditation und Yoga geht es um die Befreiung aus der Illusion. Das soll nicht heißen, dass man keinen Illusionen mehr unterliegt, sobald man meditiert. Es bedeutet lediglich, dass man sich der eigenen Illusionen bewusster wird und schließlich lernen kann, Wege zu finden, die einem dabei helfen, nicht mehr in diesen Illusionen gefangen zu sein. Und woran erkenne ich, dass ich mich nicht in irgendwelchen spirituellen Yoga- oder Meditations-Illusionen befinde? J. K.-Z.: Um zu erkennen, wie wach man ist, lässt sich daran ermessen, wie viel Leid man noch in anderen Menschen erzeugt. Je weniger Leid man in sich selbst und in anderen Menschen erzeugt, und je mehr man sich mit der Welt in Verbindung fühlt, unabhängig von den äußeren Umständen, in denen man sich befindest du, desto mehr ist man wahrscheinlich dabei, aufzuwachen. Das bedeutet aber nicht, dass Magie passiert, sondern man geht einfach anders mit dem Leben um. Wenn es sehr stressig und schmerzvoll ist, dann ist es einfach in Ordnung, so wie es ist. Es hängt dann nur noch von der inneren Balance ab. Selbst dann noch, wenn man fürchterliche Schmerzen hat. Dann wird das Gewahrsein, dass man kultiviert hat, größer als das Problem, in dem man sich befindet. Man ist dann nicht mehr damit beschäftigt, es abzuschütteln oder davor wegzurennen. Man beginnt, eine größere Reife in der eigenen Praxis zu entwickeln und sich nicht mehr so schnell in alte Verhaltensmuster zu verstricken. Aber es handelt sich dabei um eine Arbeit, die das ganze Leben dauert. Es ist nicht so, dass man sich den einen Moment noch in der völligen Illusion befindet und in der nächsten Sekunde vollkommen erleuchtet ist.
Sie haben vorhin gesagt, dass Meditation nicht das ist, wovon wir glauben, was es zu sein scheint. Könnten Sie dies genauer erläutern?
J. K.-Z.: Viele Menschen glauben, dass Meditation bedeutet, seine Gedanken loszuwerden. Dies würde ihnen aber nur Kopfschmerzen bereiten. Andere Menschen sind der Ansicht, dass Meditation ein Zustand ist, in dem man sich im Niemandsland befindet und völlig entspannt ist. Das stimmt nicht. Manchmal steht der Körper enorm unter Spannung, und man muss zum Beispiel mit starken Schmerzen fertig werden. Wir vermitteln unseren Patienten, dass sie lernen, zu meditieren und dabei entspannt zu sein, so dass sie ihren Zustand ertragen können. Es ist natürlich ein Paradox, aber wir vermitteln ihnen, dass sie lernen, damit umzugehen, egal was passiert. Für mich bedeutet Meditation, wie man sein Leben lebt. Und das bedeutet in erster Linie, das Leben im gegenwärtigen Moment zu leben. Die meisten Menschen tun dies nicht, sondern leben in der Zukunft. Sie sorgen sich über das, was kommen wird, oder planen dafür. Und wenn wir nicht in der Zukunft sind, sind wir in der Vergangenheit, wobei wir häufig von starken Gefühlen überwältigt werden, was passiert ist und was nicht passiert ist. Der gegenwärtige Moment ist aber der einzige, in dem wir wirklich lebendig sind. Wenn wir wirklich meditieren, realisieren wir, wie oft wir nicht im gegenwärtigen Moment sind. Und diese Funktion, es zu realisieren, ist die Achtsamkeit selbst. Allein diese Fähigkeit ist schon ein Geschenk. Und was wir mit einer formalen Meditationspraxis tun, ist, dass wir sie entwickeln, vertiefen. Dies ist etwas, das den Menschen angeboren ist. Aber wir schätzen es nicht sehr. Stattdessen entwickeln wir die meiste Zeit kritische Gedanken anstelle von Achtsamkeit, die unsere Heilung auf nachhaltige und wirkungsvolle Weise unterstützen kann und uns darüber hinaus von depressiven, zerstörerischen, negativen Gedanken zu befreien vermag.
Wie sieht Ihre eigene Meditationspraxis aus?
J. K.-Z.: Diese Frage beantworte ich nicht gerne. Wenn ich zum Beispiel behaupten würde, jeden Tag eine Stunde zu meditieren, denken viele Menschen, dass sie das ebenfalls tun müssten. Ich würde eher sagen, dass ich mein ganzes Leben meditiere! Wie Sie selbst gesehen haben, ist das Interesse an Meditation und Yoga hier in Deutschland enorm gestiegen. Haben Sie das Gefühl, dass wir auch wirklich meditieren und Yoga praktizieren? J. K.-Z.: Zumindest die Menschen, die ich kenne, denn sie haben eine lange Zeit mit mir zusammen praktiziert. Nach einer Weile wird die Meditations- und Yogapraxis zu etwas, das du mit Liebe tust, weil dein Leben dadurch einfach offensichtlich besser wird. Es ist eine Seinsweise. Es geht darum, bewusst bei sich und seinem Körper zu sein, ihn achtsam und wach im Moment zu spüren. Es ist eine Form aktiver Liebe, sich selbst zugewandt und sich mit Mitgefühl zu begegnen. In dem Moment, wo man mit Liebe und Achtsamkeit meditiert, wird man nicht mehr darauf verzichten wollen. Es wird dann genauso wichtig und unverzichtbar wie das morgendliche Zähneputzen. Und ebenso wie man seinem Körper am Morgen pflegt, kann man Achtsamkeit kultivieren.
Mir persönlich geht es manchmal allerdings so, dass ich keine Lust zu Yoga habe oder zu meditieren. Kann das daran liegen, dass ich noch nicht wirklich mit dem wahren Yoga, der wahren Meditation oder der wahren Liebe für diese Techniken in Kontakt gekommen bin?
J. K.-Z.: Nein, es kann am falschen Zeitpunkt liegen, wofür man im Laufe der Zeit eine Sensibilität entwickeln sollte. Wenn Sie sich selbst immer wieder sagen: Ich muss heute Yoga machen, oder ich muss jetzt meditieren, dann kann es sehr mechanisch und statisch werden, so dass die Liebe verloren geht. Zuweilen kann es auch passieren, dass man überhaupt keine Lust zur Meditation oder zur Yogapraxis hat und es trotzdem tut und sich danach besser fühlt. Bei diesen Praktiken ist ein gewisses Maß an Disziplin unverzichtbar.
Vielen Dank für das Interview!
Zum Weiterlesen: Jon Kabat-Zinn: Zur Besinnung kommen:
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