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Magic Moments: Mein Meditationskissen und ich!

    Magic Moments: Mein Meditationskissen und ich!

    Ein Erfahrungsbericht

    Aufwachen

    Es ist 5.45 Uhr. Der Wecker klingelt laut und unnachgiebig. Nur widerwillig schäle ich mich aus einem Traum. Dann realisiere ich, wo ich bin und springe aus dem Bett. Als ich in den Flur trete, schleichen Menschen an mir vorbei. Mit gesenktem Kopf. Mit bequemer Kleidung. Mit achtsamen Schritten. Ohne Schmuck und ohne Schminke. Insgesamt bewegt sich ein Strom von 24 mehr oder weniger verschlafenen Gestalten auf die Meditationshalle zu. 8 Stunden Meditation täglich stehen für die nächsten 12 Tage auf dem Programm. Rechts von mir sitzt eine Frau Mitte Vierzig. Sie hat eine saftige Erkältung, die ich in den nächsten vier Tagen hautnah mitbekommen werden. Ich bin ihre unmittelbare Zeugin. Ihr Husten, ihr Naseputzen, ihr Schniefen, ihr lauter Atem, ihr unterdrückter Husten. Dass alles erlebe ich von Moment zu Moment mit.

    Sitzen

    Ich setze mich hin und richte mein Bänkchen für die erste Meditation ein. Ein paar Augenblicke später, um Punkt sechs ertönt der Gong zum ersten Mal. Ich beobachte meinen Atem. Ich beobachte, wie er kommt und wie er geht. Ich beobachte ihn voller Elan. Ich beobachte ihn hoch motiviert. Doch fünf Minuten später verliere ich mich in Gedanken. Hole mich wieder zurück. Beobachten und verlieren – diese Procedere wiederholt sich in den nächsten Tagen unzählige Male.

    Ich bin in dieses Retreat gekommen und habe viel Geld dafür gezahlt, weil ich mich zurückziehen wollte vom Krach der Welt. Ich halte ihn derzeit nicht sehr gut aus. Ganz davon abgesehen möchte ich lernen, mich selbst besser auszuhalten. Ich bin aber auch hergekommen, weil ich mir selbst näherkommen will, um dadurch auch anderen Menschen näher zu kommen. Ich will mich selbst verstehen lernen. Ich will mich lieben lernen. Ich will Glückswellen erfahren. Ich will achtsamer werden. Mit mir selbst und anderen. Mit dem Leben und mit dem Tod. Ich will viel zu viel.

    Essen

    Nach vierzig Minuten ertönt der Gong zum zweiten Mal. Danach folgt die erste Gehmeditation, dann eine weitere Sitzmeditation. Dann kommt das erste Highlight des Tages für mich: das Frühstück. Ich genieße jeden Löffel des Breis und jeden Schluck des Tees. Ich will nirgendwo sonst sein. Ab 9.30 Uhr geht es weiter mit Sitzen, gehen, sitzen, gehen, sitzen, essen, schlafen, sitzen, gehen, sitzen und gehen. Währenddessen durchströmen mich im Wechsel Wellen des Glücks, der Langeweile, der Rückenschmerzen, der Müdigkeit, des Zweifels, der Einheit, der Frustration, der Einsamkeit und der Verbundenheit. Dann gibt es einen Vortrag, einen sogenannten Dharmatalk über den Sinn der Meditation. Nach dem anschließenden Abendessen sitzen wir noch einmal bis um 21 Uhr der Gong die letzte Meditation beendet. Danach falle ich erschöpft in mein Bett. 12 Tage lang.

    Staunen
    In den kommenden Tagen erlebe ich eine äußerst vielschichtige Palette von Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen. Mit ihnen bin ich mal vollständig identifiziert und ein anderes Mal erkenne ich sie als Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen an. Leider bin ich häufiger mit ihnen identifiziert, als mir lieb ist. Es gibt aber auch magische Momente, in denen ich vollkommen in mir ruhe. In denen ich nur Atem bin. In denen ich reine Liebe bin. In den ich alle bin. Aber es sind weniger, als mir lieb ist. Schließlich bin ich doch hergekommen, weil ich nur im reinen Gewahrsein sitzen wollte! Ich wollte sitzen und sein. Wunschlos glücklich sitzen. Bewegungslos sitzen. Gedankenlos sitzen. Im inneren Frieden sitzen. Einfach nur sitzen. Nur da sein. Nur sein. Ich wollte zu viel.

    Mitfühlen

    In den ersten drei Tagen absorbieren meine Aufmerksamkeit immer wieder der Husten, das Schniefen, das Naseputzen, das laute Atmen meiner Nachbarin. Manchmal bin ich so wütend auf sie, dass ich mich nicht wiedererkenne. In anderen Moment fließt mein Herz vor lauter Mitgefühl für sie über. Dann gibt es Momente, in denen ich erkenne, dass es keine Trennung gibt zwischen ihr und mir. So etwas passiert in solchen Momenten, in denen ich nichts will. Dies sind die Momente, in denen ich einfach nur bin. Atem. Stille. Atem.

    Auflösen
    In  anderen Augenblicken will ich es besonders gut machen.  Dann konzentriere ich mich bewusst auf dem Einatmen und auf den Ausatem. Mit strenger Achtsamkeit. Mit voller Konzentration. Mit enormer Anspannung. Dann achte ich auf meine Nasenlöcher und das, was ich dabei spüre, wenn der Atem in den Körper einströmt und ihn wieder verlässt. Auch wenn es so banal klingt, je mehr ich will, desto mehr geistige Anstrengung braucht es. Heitere Gelassenheit ist noch nicht ausgebildet. Alle paar Sekunden schweife ich ab. Ich vergesse meine Nasenspitze. Ich verliere mich in irgendeinen Gedanken, der sich vollkommen unbemerkt zwischen mich und das gleichmäßige Atmen oder die Achtsamkeit stellt. In anderen Augenblick klebt meine Aufmerksamkeit an einem Geräusch, wie dem Gesang des Vogels, der zu einem willkommenen Sprungbrett in eine fantastische Welt wird. Dann hole ich mich wieder zurück und das Einatmen wird ganz von allein zu einem so außergewöhnlichen Erlebnis, dass sich von einem Moment auf den anderen die Grenzen auflösen zwischen mir und der Welt.

    Verändern
    Jeden Tag erlebe ich unterschiedlichste Zustände. Mal gleicht es einer wilden Achterbahnfahrt, mal einem stillen See. Ich lasse mich immer wieder aufs Neue darauf ein, bewusst durch alles hindurchzugehen, was sich mir zeigt. Offen. Wertfrei. Achtsam. ich versuche, so gut wie möglich da zu sein, mit jeder Faser meines Körpers. Von Moment zu Moment versuche ich, mich immer wieder zurückzuholen. Von Augenblick zu Augenblick bemühe ich mich, nicht ununterbrochen zwischen Vergangenheit und Zukunft hin- und herzupendeln oder alles und jeden zu bewerten. Von Atemzug zu Atemzug versuche ich es immer wieder. Mal wird es mir in einem Bruchteil von einer einzigen Sekunde bewusst, dass ich gerade dabei bin, mich in eine der zahllosen Geschichten zu verwickeln, die aus meinen Gedanken entstehen. Manchmal bemerke ich es erst zehn Minuten später. Bei all diesen inneren Ausflügen ist das Meditationsbänkchen mein stummer Zeuge. Es urteilt nicht. Es schämt sich auch nicht fremd für meine Gedanken. Ganz im Gegensatz zu mir. Von meinem Bänkchen kann ich viel lernen.

    Lieben
    Nach drei Tagen komme ich langsam zur Ruhe. Ich komme an. Indem ich ankomme, wird mir auch der Grund meines Herkommens bewusst: Ich habe wirklich den tiefen Wunsch, mir selbst näher zu kommen. Ich möchte Türen in mir öffnen, die mir selbst bislang verschlossen waren. Solche, von denen ich bislang möglicherweise noch gar nichts wusste, dass es sie gibt. Ich möchte Türen öffnen, die einen Raum des tiefen Urvertrauens aufzeigen. Ich möchte Türen öffnen, hinter denen sich mir die bedingungslose Liebe offenbaret. Ich möchte endlich etwas in mir selbst finden, wonach ich mich bei anderen gesehnt habe.


    An manchen Tagen habe ich jedoch das Gefühl, dass mir der lange Atem dafür fehlt, ES zu finden. Das sind die Augenblicke, in denen sich mir mein Widerstand in den Weg stellt. Dann fühle ich mich eingeengt. Dann stören mich die Regeln, macht mich der Gong zornig, die anderen Teilnehmer ärgern mich grundlos, die Struktur nimmt mir die Luft zu atmen. Ich sehne mich nach der Erfahrung des „offenen Raumes“, die der Seminarleiter während seiner Vorträge verspricht. Wir bräuchten uns nur entsprechend hingeben. Wir bräuchten nur das sein mit dem, was ist. Je häufiger er davon spricht, desto mehr gerate ich unter Druck. Ich fühle mich manipuliert. Ich habe das Gefühl, dass man mir vorgibt, in welche Richtung die Suche gehen soll. Ich möchte mich auf die Suche nach mir machen, ohne etwas Bestimmtes erfahren zu müssen.

    Quängeln

    Nach ein paar Tagen ist meine Nachbarin wieder gesund. Nun ruht sie wie Buddha auf ihrem Kissen. Wie elegant sie aussieht. Wie grazil sie plötzlich wirkt. So, als könne sie nichts mehr aus der Ruhe bringen. Ich beneide sie. Ich würde auch gerne so dasitzen wie sie. Der Nachbar links von mir erinnert mich ebenfalls an Buddha. Während die beiden wie Säulen in sich ruhen, rutsche ich nach ein paar Stunden immer wieder auf meinem Kissen hin und her, in der Hoffnung, irgendwann die ideale Sitzposition gefunden zu haben, in der Hoffnung, dass der Gong wieder ertönt und ich raus kann in die Natur, wo die Sonne scheint und die Weite lockt.

    Bezeugen
    Immer wieder nehme ich Teilnehmer in Augenschein, wenn ich lange vor dem Ertönen des Gongs die Augen öffne. Die meisten sehen so gelassen aus. Ein unruhiger Geist scheint keinen von ihnen zu quälen. Die meisten sitzen da, als wären sie im Waffenstillstand mit sich selbst und dem Rest der Welt. Ich frage mich, ob es ihnen in die Wiege gelegt wurde, in sich zu ruhen oder ob sie es sich über viele Jahre erarbeiteten mussten, mit der Welt in Frieden zu sein. Ich auf jeden Fall muss mir den Frieden umständlich und mühsam auf dem Kissen erkämpfen. Dabei bleibt das Kissen ruhig. Es ist und bleibt in Frieden mit mir und wird zu einem stummen, geduldigen Zeuge all dessen.

    Viele der Teilnehmer strahlen bereits nach einigen Tag etwas Schönes aus. Mir kommt es so vor, als würde durch das stille sitzen jeder im Raum nach und nach attraktiver, friedlicher, entspannter, achtsamer, liebenswerter, mir näher. Und je länger die Teilnehmer sitzen, desto offener wirken sie auf mich. Nur mich selbst empfinde ich als rastlos, unachtsam, unkonzentriert und unbeholfen.  

    Fühlen

    12 Tage später: Um 12 Uhr ertönt der Gong das letzte Mal. Ich atme aus und atme auf. Mein erstes Retreat geht zu Ende. Jetzt bin ich wieder frei. Kann gehen, kann reden, kann tun und lassen, was ich möchte und wann ich es möchte. Obwohl ich mich über die wiedergewonnene Freiheit freue, durchfährt mich ein Abschiedsschmerz. Wehmut. Sehnsucht. Nach mehr Einheit. Nach mehr Stille. Nach mehr Begegnung mit mir selbst. Ich stehe auf und verneige mich vor meinem Kissen. Es war 10 Tage lang meine Anker, mein Ruhepol, mein Ort der Entspannung und der Offenbarung, mein Freund und mein Feind, mein stummer, nicht wertender Zeuge. 

    Als ich mich abschließend von einigen Teilnehmern verabschiede, sagen sie mir: „Wann immer ich dich gesehen habe, du hast du ruhig und entspannt gewirkt. Ich selbst hatte hingegen auf meinem Kissen zu kämpfen.“