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Geschichten für’s Herz: Ein Notenblatt als Lehrer

    Geschichten für’s Herz: Ein Notenblatt als Lehrer

    10.09.2024

    Ein Notenblatt als Lehrer

    Das Leben unser Meister, sucht sich manchmal sehr eigenwillige Wege aus, um uns eine Lektion zu erteilen. Manchmal verstehen wir die Belehrung, die es uns mit einem bestimmten Umstand, einer alles verändernden Begegnung, einem existenziellen Verlust erteilen möchte, erst Jahre später. Sören Kierkegaard brachte es mit folgenden Worten auf den Punkt: „Das Leben kann nur vorwärts gelebt und rückwärts verstanden werden.“.

    Es heißt, dass alles, was uns begegnet, uns zu unserer eigenen Bestimmung führt und zu unserem eigenen Herzen bringt. Vorausgesetzt, wir sind achtsam und haben das Leben als unseren Lehrer akzeptiert. Dann haben wir das Gefühl, dass alles in Ordnung ist, so wie es ist. Auf dem richtigen Weg zu sein bedeutet aber keineswegs, dass all das, was uns passiert immer schön ist. Das heißt auch nicht, dass alles immer richtig läuft. Ebenso wenig bedeutet es, dass alles immer gut wird. Und da wir unser Leben erst rückwärts verstehen können – und damit kann auch schon mal ein Jahrzehnt gemeint sein – kann es passieren, dass wir erst spät erkennen, dass es die langanhaltende Krise gebraucht hat, um bei uns selbst anzukommen. Manchmal kämpfen wir hart um die Liebe eines Menschen oder um den Erhalt eines Arbeitsplatzes oder mit einer chronischen Krankheit. Und so sehr wir uns bemühen, wir verlieren den Menschen, den Arbeitsplatz trotzdem oder bleiben weiterhin krank. Manchmal haben wir es einfach verdammt schwer und müssen erkennen, dass wir keine andere Wahl haben, als von unseren Wünschen, Vorstellungen und Sehnsüchten loszulassen. Die Akzeptanz, die Demut, die Hingabe, sie öffnen uns die Türe zu jenem Raum, in den wir hineinentspannen können, wenn wir loslassen. Dann erkennen wir, dass etwas viel Größeres auf uns wartet. Möglicherweise sieht dieses Größere ganz anders aus, als wir gedacht haben. Manchmal ist dieses Größere die letzte Seite aus einem Kapitel, einem Lebensabschnitt oder es ist das letzte Puzzleteil, was zur Vollendung einer Geschichte gefehlt hat. Und manchmal ist es auch der erste Schritt in eine neue Richtung.

    Da ich Geschichten liebe, bin ich auch immer auf der Suche nach außergewöhnlichen und berührenden Biografien. Erfahrungen die Menschen gemacht haben, die das Herz öffnen und den Geist weiten, faszinieren mich. Begebenheiten, die deutlich machen, dass ein Unglück am Ende immer zu etwas Nutze war und alles gut wird, gefallen mir besonders. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. „Wie bitte?!“ werden Sie jetzt möglicherweise denken. Auf der vorhergehenden Seite habe ich doch gesagt, dass nicht immer alles gut wird. Was für ein Paradox. Was für ein Mysterium. Was für ein Geheimnis, dieses Leben. 

    Beeindruckt hat mich das Leben und die Musik von Murray Perahia, einem US-amerikanischem Pianist und Dirigent. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere schnitt er sich mit 40 Jahren an der Kante eines Notenblatts am rechten Daumen. Blätter können manchmal nämlich so scharf sein wie Messer. Der Schnitt entzündete sich und dies hatte zur Folge, dass der berühmte Pianist Jahre lang nicht mehr spielen konnte. Der Troubadour des Pianos, wie Perahia auch genannt wird, konnte seiner Passion nicht mehr nachgehen. Anstatt den Kopf hängen zu lassen oder sein Schicksal zu beklagen, tauchte er auf ganz neue Weise ein in die Musik und beschäftigte sich ganz neu und umfassend mit ihr. Das Notenblatt hatte ihn Demut und noch mehr Tiefe geschenkt. Die Goldberg-Variationen, die er danach einübte, waren 15 Wochen lang in den Charts. Seine Improvisationen sind zutiefst melancholisch. Sie berühren mein Herz. Sie berühren mein Sein. Sie berühren mich deshalb, weil sie von einem Meister der Noten und einem Meister des Lebens gespielt werden.  

    Foto: Isaac Ibbot / Unsplash