Unruhegeist oder Ruhepol?!
Den Geist zur Ruhe bringen. Sich selbst wahrnehmen. Den Körper spüren. Sich nicht von Gefühlen überfluten lassen. Das alles wünschen sich Menschen, die mit der Meditation beginnen. Allerdings kann das Erlernen der Meditation für Menschen mit traumatischen Erfahrungen eine große Herausforderung sein. Bist du selbst auch betroffen und tust dich schwer mit der Meditation? Kein Grund zur Resignation. Du kannst sie erlernen: Mit Liebe, Geduld und Mitgefühl und ohne Handy.
Eigentlich dauern Meditationen im dreißig bis vierzig Minuten. Eigentlich. Aber das ist selbst für viele Menschen (auch ohne traumatischen Hintergrund) mittlerweile viel zu lange. Diese Erfahrung mache ich immer wieder, wenn ich Achtsamkeitstage oder MBSR-Kurse gebe.
Einige Teilnehmer sind so erschöpft oder ausgebrannt, dass sie sich nicht länger als drei Atemzüge konzentrieren können. Andere haben bereits Burnout oder eine Depression hinter sich und müssen wieder lernen, mit viel Geduld und noch mehr Selbstmitgefühl wieder zu sich selbst zurückzufinden. Aber alle von ihnen fühlen sich überfordert von der permanenten Reizüberfluten, den vielen Informationen und den zunehmenden Spannungen, die durch den Äther schwirren und in der Luft liegen. Und natürlich klagen alle über die permanente Erreichbarkeit und hätten eigentlich viel lieber ihre Ruhe. Eigentlich.
Allerdings ist die Digitalisierung und die damit einhergehende Erreichbarkeit mittlerweile eine wesentliche Säule unserer Gesellschaft und hier insbesondere unserer Leistungsgesellschaft geworden. In dieser kommen nur die Schnellen, die Smarten und die Starken voran. Das Tempo wird täglich angezogen, die Anforderungen immer höher, der persönliche Kontakt immer geringer, und damit der Umgangston immer rauer und der Druck auf den Einzelnen nimmt zu.
Viele Menschen, egal welchen Alters, fühlen sich permanent überfordert, spalten sich von ihren eigenen Bedürfnissen und Gefühlen ab und schalten leistungsbedingt auf Autopilot um irgendwie über die Runden zu kommen. Statt zu entspannen, werden sie angetrieben von Ängsten und Sorgen, die von den Medien gerne und rund um die Uhr gefüttert werden und welche die Anspannung und damit einhergehend die Abnahme der Konzentrationsfähigkeit nur noch größer werden lässt. Menschen mit traumatischen Erfahrungen leiden noch viel mehr unter der inneren Unruhe.
Trotz aller Klagen über den digitalen Wahnsinn schauen die meisten Menschen ca. 150 Mal am Tag aufs Handy, in der Hoffnung, dass eine neue Nachricht eingetroffen ist. Denn diese, das haben Forscher herausgefunden, entlocken dem Gehirn das Glückshormon Dopamin. Das der Blick aufs Handy im Gegenzug Konzentrationsstörungen zur Folge hat, wissen hingegen noch nicht alle. Jedes Mal, wenn wir mit der Aufmerksamkeit bei einer Sache sind und durch das Bimmeln oder Klingeln abgelenkt werden, braucht es wieder mindestens zwei Minuten bis wir mit unserer ganzen Aufmerksamkeit wieder bei dem sind, auf das wir uns eigentlich konzentrieren wollten.
Der zunehmende Druck einerseits und der steigende Wunsch nach Dopamin andererseits macht viele Menschen blind für Auswege und noch blinder für die Notbremse, die wir allerdings nur in uns selbst finden und auch nur selbst bedienen können. Allerdings scheint hier der Teufelskreis seinen Lauf zu nehmen, da Ruhe und Innenschau scheint unter unüberwindlichen Hindernissen wie zunehmendem Leistungsdruck, Dauerhetze und stressverstärkenden Denkmustern nicht mehr erkennbar zu sein. Wenn wir Glück haben, merken wir erst, wie sehr auch wir unter Strom stehen, wenn wir uns nicht mehr länger als drei Atemzüge konzentrieren können oder uns fühlen, als würden wir explodieren, wenn wir länger als zehn Minuten still sitzen bleiben müssen. Wenn wir hingegen Pech haben, werden wir erst krank. Darum ist es gut, wenn auch du deinen eigenen Status Quo zu kennst und gegebenenfalls jetzt schon die Notbremse ziehst. Der folgende Test zeigt dir, wie sehr du selbst in der Tretmühle gefangen sind.
Wie sehr stehst du unter Strom?
Beurteile die folgenden Aussagen mit 1 = trifft nie zu, 2 = trifft selten zu, 3 = trifft manchmal zu, 4 = trifft häufig zu, 5 = trifft immer zu
- Komplexe Aufgaben überfordern mich schnell
Punkte: ____________
- Ich habe mindestens zwei der folgenden Beschwerden: hoher Blutdruck, Verdauungsbeschwerden, Kopfschmerzen, Migräne, depressiven Verstimmungen, Infektionen.
Punkte: ____________
- Mir fehlen Raum und Zeit, um mich zu entspannen und zu regenerieren.
Punkte: ____________
- Ich schlafe schlecht.
Punkte: ____________
- Für Yoga und Sport fehlt mir die Motivation.
Punkte: ____________
- Ich habe Verspannungen und Rückenschmerzen.
Punkte: ____________
- Meine Gedanken kreisen häufig um die Zukunft und die Dinge des Alltags.
Punkte: ____________
- Meine Konzentration ist schlecht.
Punkte: ____________
- Ich fühle mich schnell gestresst.
Punkte: ____________
Auswertung
9–17 Punkte: Du bist ein gutes Vorbild
Wahrscheinlich übst du regelmäßig Yoga, meditierst und hast deine Mitte gefunden. Herzlichen Glückwunsch! Solltest du trotz Vollzeitstelle dieses Ergebnis haben, bist du wirklich sehr ausgeglichen. Du führst ein Leben, dass dir entspricht, und bist zufrieden und ausgeglichen. Mache anderen Menschen in deiner Umgebung Mut, mehr für sich selbst zu tun – ohne sie allerdings zu missionieren. Zeige ihnen, welche Praxis dir besonders geholfen hat, bei dir zu bleiben.
18–26 Punkte: Du kannst noch mehr Tiefe erlangen
Dich bringt selten etwas aus der Ruhe. Deshalb sind andere Menschen auch so gerne mit dir zusammen. Wahrscheinlich unterstützt dich deine Yogapraxis maßgeblich darin, auch in stressigen Zeiten bei dir zu bleiben. Gut so! Wenn nicht, versuche doch einmal, kleine Achtsamkeitsmeditationen einzuführen, die dich schnell wieder in deine Mitte bringen.
27–35 Punkte: Sorge kleine Oasen der Entspannung
Stress ist bei dir zum Glück kein Dauerstress. Kommt jedoch viel zusammen, kann es sein, dass du sehr stressige Phasen erlebst. Um deine Konzentration zu stärken und leistungsfähig bleiben zu können, solltest du regelmäßig Zeit für Yoga und Atemübungen einplanen. Sport und Meditation helfen in Akutphasen sehr wirksam gegen die negativen Auswirkungen von Stress auf Körper, Geist und Seele. Allerdings solltest du langsam beginnen und dich mit den Meditationen nicht unter Druck setzen.
36–45 Punkte: Entspannung sollte bei dir ganz oben auf der To-do-Liste stehen
Es wird Zeit, dass du versuchst, dir täglich ein paar Minuten Zeit für einfache Atemübungen, oder besser noch für Yoga und kurze Meditationen nimmst. Auch eine Achtsamkeitspraxis kann dich darin unterstützen, wieder mehr zu dir zu kommen, abzuschalten und Ruhe zu finden. Das Leben auf der Überholspur tut weder dir noch deiner Gesundheit gut. Solltest du dich gerädert und müde fühlen, wird es höchste Zeit, das Handy am Wochenende einmal ganz auszulassen und dir selbst etwas Gutes zu tun. Kleine Inseln der Ruhe sind mehr als notwendig.
Atemzug für Atemzug
Wie stark der Einfluss des Smartphones auf unser Gehirn ist und wie wenig Entspannung möglich ist, merken einige meiner Teilnehmer erst dann – und zwar schmerzlich – wenn sie versuchen, sich wieder mehr dem zuzuwenden, um dem es eigentlich geht: Entspannung, reale Beziehungen, Selbst-Erkenntnis, eine spirituelle Praxis und Impulskontrolle. Dann gehen sie nach einem Achtsamkeitstag oder einem Retreat mit dem Vorsatz nach Hause, täglich mindestens fünf bis zehn Minuten zu meditieren. Häufig scheitern sie jedoch bereits daran, dass sie es gar nicht schaffen, sich auf ihr Meditationskissen zu setzen und still zu werden. Es ist zu viel los. Zu viel zu tun. Zu wenig Zeit. Und wenn es dann schaffen, still zu sitzen, dann sind trotz des Retreats oder der Achtsamkeitswoche selbst drei Minuten schon manchmal zu viel.
Dann ist noch mehr Liebe, noch mehr Geduld und noch mehr Selbstmitgefühl gefragt und ich empfehle ihnen, zuerst einmal wieder Kontakt in der Natur zu sich aufzunehmen. Drei Atemzüge achtsam an einem See gehen, stehen oder liegen. Im See oder am See. Drei Atemzüge achtsam in einem Park gehen, stehen oder liegen. Drei Atemzüge achtsam sein, während sie barfuss auf einer Wiese gehen. Drei Atemzüge achtsam schauen, hören, riechen, während sie in den Himmel schauen, einen Baum berühren oder einen Hund streicheln.
Auf drei Atemzüge folgen dann nach und nach vier oder fünf. Die achtsamen Schritte mal barfuss mal nicht, nehmen nach und nach zu, das Verweilen auf einer Parkbank dehnt sich aus. Schritt für Schritt. Atemzug für Atemzug. Ganz ohne Leistungsdruck, ganz ohne Selbstanklage, dafür aber mit viel Geduld, Selbstmitgefühl und ohne Handy.
Foto: erik-brolin-ZARfCYDaVg0-unsplash-3-scaled.jpg
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