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Kollektives Traum heilen. Thomas Hübl im Interview

    Kollektives Trauma heilen

    08/04/2024

    Thomas Hübl im Interview

    Der spirituelle Lehrer und Autor Thomas Hübl ist ein Pionier auf dem Gebiet der kollektiven Traumaheilung. Warum diese so immens wichtig ist, und welche Wege wir dafür konkret finden können, beleuchtet er in einem Gespräch, dass ich mit ihm führen konnte.

    Viele Menschen, die mit Trauma arbeiten, kennen dich. Wie würde deine Frau dich den Lesern und Leserinnen vorstellen, die dich noch nicht kennen?

    Thomas Hübl: Meine Frau würde sagen: „Thomas vereint zwei Welten in sich. Die eine ist die Welt der Mystik, die Welt der menschlichen Entwicklung, der Spiritualität. Und die andere ist die Welt der Wissenschaft. Er bringt beide immer wieder in sich in einen Dialog und bringt sie auch in die Welt da draußen. Die eine Welt bringt ganz tiefe Beziehungsfähigkeit, tiefe Prozessarbeit, tiefe Heilarbeit, tiefe Wandlungsarbeit oder spirituelle Vertiefung mit sich. Und die andere bringt eine Sprache hervor, die die Neurowissenschaft, die Psychologie und die Wissenschaft sprechen. Wichtig ist ihm, diese Aspekte miteinander und mit dem, was in unserer Welt gegenwärtig ist, zu verbinden.“ Ich glaube, dass sie das so ausdrücken würde. Das sind meine Kernkompetenzen.

    An welche Qualitäten von dir soll man sich erinnern, wenn du nicht mehr da bist?

    Das Eine ist, die mystische Dimension in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen und zu schauen, was uns aus dieser Tiefe heraus ruft. Das Andere ist, dass ich etwas vom Leben geschenkt bekommen habe, im Sinne von individueller und kollektiver Heilung. Das ist etwas, was mir sehr nahe liegt. Und das ist auch etwas, was viele Menschen erfahren, wenn sie zu uns in die Kurse und Trainings kommen. Ich glaube, dass dies eine Dimension ist, die nachklingen wird.

    Bis vor kurzem haben Leute noch nicht über kollektive Traumatisierung gesprochen. Das ist ein neuer Trend. Ich glaube, dass wir mit unseren Summits, an denen sich jedes Jahr bis zu hunderttausend Menschen beteiligen, auch dazu beigetragen haben. Ich glaube, dass wir diese Dimension von kollektiver Heilung bilden können, damit wir kollektiv heilen können. Das ist eine Innovation, die wir geschaffen haben.

    Du sprichst jetzt weniger von dir als von „wir“. Wen meinst du damit?

    Ich meine unsere Organisation, unsere Therapeuten sowie ganz viele andere wunderbare Menschen, die andere in ihren Prozessen begleiten. Wenn wir Trainings machen, haben wir ein Team von vierzig Therapeuten. Ich sehe uns, die daran arbeiten, als Team. Wir haben einige Organisationen, auch Non-Profit-Organisationen, die dieses Wissen über Trauma an die Gesellschaft weitergeben möchten.

    Was die kollektiven Traumata betrifft, sind wir meiner Meinung nach durch Corona noch einmal neu und tiefer mit diesem Phänomen konfrontiert worden. Es sind so viele Menschen traumatisiert und re-traumatisiert worden. Ist es überhaupt noch möglich für uns als Menschheit, dass wir kollektiv heilen können? Dafür bräuchte es doch ein globales Verständnis davon, in welchem Zustand wir uns gesellschaftlich befinden, oder?

    Ich möchte das in Beziehung setzen mit etwas, was vielleicht im ersten Moment hinkt, aber wichtig ist. In den 1840ern hatte Dr. Ignaz Semmelweis in Wien bahnbrechend erkannt, dass es zu einer hohen Sterblichkeitsrate von Babys kommt, wenn man sich als Arzt bei der Geburt nicht die Hände wäscht. Man hatte erkannt, dass wir Bakterien auf den Händen haben, die zu eben dieser Sterblichkeit führen. Diese Erkenntnis hat die Sterblichkeit von Babys sehr reduziert. Das war etwas, das uns vorher nicht bewusst war, aber jetzt zum Standard medizinischer Hygiene gehört. Ich glaube, dass das mit der kollektiven Traumatisierung genauso ist. In den letzten Jahrzehnten gab es viele Pioniere, die die Trauma-Arbeit mit Individuen sehr weit nach vorne gebracht haben.

    Ich selbst arbeite seit mehr als zwanzig Jahren an dem kollektiven Trauma des Holocaust. Diese Art der Trauma-Arbeit haben wir nach Amerika und in andere Teile der Welt gebracht. Ich glaube, es ist so ein ähnliches Phänomen. Wenn das Wissen um Trauma kollektiv in unserem Bewusstsein gelandet ist – dass es auch für die globale Gesundheit sehr wichtig ist, dass wir kollektive Traumarbeit machen müssen –, wird sich hier auch noch mehr öffnen. Denn erst durch diese Arbeit werden sich unsere Gesundheitskosten reduzieren, Rassismus wird abnehmen und viele Polarisierungsphänome werden nachlassen. Dann wird globale Kollaboration möglich sein.

    Wenn wir in die Welt schauen, dann ist ein Großteil der Welt – das fängt in Amerika an, geht über Afrika, Asien etc. – von einen enormen Traumaring umgeben, der durch den Kolonialismus entstanden ist. Wenn wir den Klimawandel angehen wollen, bringt das Reibungsfelder mit sich. Man konnte ja auch bei Corona sehen: Wenn mehr Stress ins System kommt, wird die Traumatisierung sichtbarer. Es wird kaum darüber gesprochen, worum es wirklich ging. Wir waren viel zu aufgeladen. Je mehr kollektive Bewusstheit darüber vorhanden ist, dass wir alle in eine traumatisierte Welt hineingeboren wurden, die epigenetisch, psychologisch, sozial, etc. auf uns auswirkt, dann, so glaube ich, werden wir immer mehr Wege finden, wie wir uns konstruktiv damit beschäftigen werden.

    In mir taucht gerade die Frage auf, ob es überhaupt gewünscht ist, dass wir eine gesunde Gesellschaft werden. Ich habe gerade das Buch „Vom Mythos des Normalen“ von Gabor Maté gelesen. Seine These ist ja, dass wir von Soziopathen beherrscht werden, die nur an unserer Kaufkraft, aber nicht an unserer Gesundheit interessiert sind. Während der Pandemie wurde ja – wie man heute anhand von Regierungspapieren belegen kann – bewusst mit Angst gearbeitet und die Bevölkerung dadurch traumatisiert oder re-traumatisiert. Wie kann man bei einem solchen Ansatz kollektive Traumata heilen?

    Wir setzen bei den Menschen an, die sich schon länger mit Bewusstseinsarbeit, mit innerer Arbeit und mit Heilwerden beschäftigen. Sie haben das Privileg, das machen zu können. Sie haben das Geld, die Ressourcen und die Zeit, sich damit zu beschäftigen. Dadurch wird diesen Menschen auch die Verantwortung gegeben. Wenn ich bewusster werde, ist es für mich einfacher, mich mit schwierigen Themen auseinanderzusetzen. Es gibt immer mehr Menschen, die schon genug innere Arbeit gemacht haben, oder von sich aus so integriert sind, dass wir gemeinsam eine Art Netzwerk bilden können und uns mit der Gesundwerdung beschäftigen können, und dann können wir auch die massive Angst, die in unserer Gesellschaft ist, angehen. Wir Deutschen kommen aus einer Zeit des Holocaust. Unsere Eltern waren darin involviert. Unsere Eltern oder Großeltern waren Teil des Zweiten Weltkriegs. Wir wurden in den massiven Einfluss, den das hatte, hineingeboren. Wir haben viele kollektive Ängste, die oft unterdrückt sind und hochkommen. Das ist menschlich. Wir brauchen Wege, wie wir lernen, uns gesellschaftlich darauf zu beziehen. Das fing mit einer Welle von Menschen an, die begonnen haben, Yoga zu machen, zu meditieren etc., und die durch diese Praxis stabiler geworden sind und dadurch auch Fähigkeiten an die Hand bekommen haben, nicht auf die Polarisierung aufzuspringen, sondern durch die innere Arbeit zentrierter bei sich zu bleiben.

    Wir machen jedes Jahr einen kollektiven Trauma-Summit mit rund hunderttausend Menschen. Es gibt ein großes Interesse, große Resonanz. Auch wenn wir so konditioniert sind, dass wir es gewohnt sind, in einer Welt zu leben, die derart verschoben ist, und das Geraderücken schmerzhaft ist, so ist es doch möglich. Aber wir merken, welche Wirkung es hat.

    Schaust du optimistisch auf die Zukunft?

    Auf jeden Fall schaue ich enthusiastisch auf die Zukunft. Ich glaube, dass wir etwas machen können. Ich glaube an den inhärenten Selbstheilungsmechanismus der Biosphäre. Wir alle kennen das: Wenn sich jemand in den Finger schneidet, ist das nach ein paar Tagen wieder heil. Unser Körper hat eine enorme Selbstheilungskraft. Ich glaube auch, dass unsere Psyche Selbstheilungskraft hat. Und ich glaube, dass eine Gesellschaft so etwas hat. Ich glaube sehr, dass die Natur das hat. Denn die Natur wirkt ja durch uns. Ich glaube, dass die Welt sich heilen möchte. Wir müssen die Ökosysteme dafür schaffen. So wie wir Krankenhäuser erschaffen für Menschen, die physisch dringend Hilfe brauchen, ist es auch ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft, dass Menschen irgendwo hinkommen können, wo sie für ihre Traumata Hilfe erfahren. Wir brauchen ähnliche Strukturen. Auch auf Regierungsebene. Wir brauchen kollektive Aufarbeitungsräume. Wir brauchen Therapiezentren fürs Kollektiv, weil wir immer deutlicher erkennen, wie sehr Traumatisierung die Grundlagen für viele gesellschaftliche Probleme ist. Für Kriminalität, Sucht, Suizid, etc. Es gibt es schon sehr viele Studien, die zeigen, wie maßgeblich sich Kindheitstraumatisierung auf das spätere Leben auswirkt. Je tiefer die Traumatisierung als Kind, desto mehr Gesundheitsprobleme kann es für uns als Erwachsene geben. Wir brauchen eine Architektur, um diese kollektiven Traumata zu heilen. Es wurden immer Neuerungen von Menschen geschaffen. Irgendwann waren sie normal, so dass sie Teil des Lebens wurden. Ich glaube, das sind wir heute mit unserer kollektiven Heilungsarbeit.

    Ein schöner Gedanke. Aber kann nicht letztendlich immer nur jeder Einzelne etwas in das Feld der Heilung geben?

    Ja, es geschieht durch jeden Einzelnen. Und dadurch, dass wir in kollektiven Räumen zusammenkommen.

    Du hast es in einem Vortrag sehr schön beschrieben, dass ein übererregtes Nervensystem am besten ein entspanntes Nervensystem braucht, um sich wieder zu beruhigen. Das fand ich in der Coronakrise allerdings manchmal schwierig, wenn jemand vor mir stand und mir erzählte, dass wir innerhalb einer Woche mit Hunderttausenden von Toten rechnen müssen. Wenn ich versucht habe, einen solchen Menschen zu beruhigen, wurde ich gleich ausgegrenzt oder als Leugnerin dargestellt. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Menschen, die sich mit Spiritualität beschäftigen, entspannter auf all die Horrormeldungen reagieren. Aber das war gar nicht der Fall. Und jetzt? Jetzt ist die Gesellschaft gespalten. Kannst du uns helfen und uns Tipps geben, wie wir wieder Brücken zueinander bauen können?

    Das ist eine sehr schöne und wichtige Frage. Ich denke, das Erste ist, dass wir anerkennen müssen, dass es diese Frakturen gibt. Oftmals pathologisieren wir sie und sagen, das ist schlimm, und wir hätten es besser können sollen. Sich einlassen auf das, was ist. Ja, da wurde etwas sichtbar. Durch Corona wurde sichtbar, dass man Spiritualität über dem Trauma praktizieren kann. Und wenn dann Stress kommt, bricht trotzdem etwas hervor, weil es nicht tief angeschaut wurde. Und ich glaube, das haben wir in verschiedenen Bereichen gesehen, dass das Ausagieren von verschiedenen Triggerpunkten – entweder dieser Überstress oder die Distanzierung und das Sich-Herausziehen – die beiden Traumareaktionen sind. Das konnte man sehen. Entweder wurden Leute sehr aggressiv oder agitiert oder aber sehr entkoppelt von dem, was passiert ist.

    Eine angemessene, gesunde Haltung wäre gewesen, dass wir, auch wenn es Spannung gab, gemeinsam in der Spannung geblieben wären und Raum dafür gehalten hätten. Aber dieses Verhalten gab es nur sehr begrenzt. Ich glaube auch, dass wir als Gesellschaft viel zu wenig Räume schaffen, in der wir uns der Corona-Aufarbeitung zuwenden. Es ist so, dass sich die Welt in den letzten beiden Jahren drastisch verändert hat. Aber danach gab es ein Fingerschnippen, und es geht weiter wie zu vor. Es gibt überhaupt keine Aufarbeitung. Es ist viel passiert. Es ist viel Misstrauen, Distanzierung und Fragmentierung geblieben. Wir müssen anfangen, mit unseren Freunden und Familien Räume zu schaffen und darüber zu sprechen, was geschehen ist. Gemäß dem Motto: Ich höre dir zu. Du hörst mir zu. Wie geht es uns? Ich erzähle, was noch in mir steckengeblieben ist aus dieser Zeit. Und du erzählst mir, wie es dir ergangen ist. Du erzählst mir, dass du der Regierung nicht mehr traust, dem Land nicht mehr traust, dem Nachbarn nicht mehr traust. Und ich höre dir einfach nur zu und lasse mich auf deine Erfahrung and Gefühle ein.

    Wir müssen erst mal anfangen, wahrzunehmen, wie es uns jeweils ergangen ist, indem wir diese ehrlichen Dialogräume schaffen, wo es nicht ums Rechthaben geht, und nicht darum, ob es Corona gibt oder nicht etc. Erst dann, wenn wir einen co-regulativen Raum schaffen, kann das Nervensystem einen Beziehungsraum erschaffen. Und darin finden Reflexion und Verdauung statt. Und wenn das stattfindet, kann Integration geschehen. Und integrieren heißt lernen. Es wird niemanden geben, der die Räume für uns schafft. Das müssen wir tun.

    Ich bin dir dankbar für deine Gedanken. Mögen sich viele Wesen durch den Artikel inspiriert fühlen, diese Räume zu schaffen. Ich habe es auf einem Yogafestival ansprechen wollen, in einer Runde, in der drei Studiobesitzer saßen, die während der Pandemie Ungeimpfte massiv beschimpft und beleidigt haben. Ich wollte diese Verletzungen thematisieren: „Wir müssen mal darüber reden, was das mit den Ungeimpften gemacht hat, dass sie so ausgegrenzt und zu Unrecht beschimpft wurden.“ Darauf haben alle betreten zu Boden geschaut, und es wurde offensichtlich, dass kein Interesse daran bestand, sich mit mir in einem Gespräch über die Wunden und Risse, die diese Zeit hinterlassen hat, auseinanderzusetzen.

    Es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass dies ein gängiger Mechanismus ist: Okay, das war, lass uns weitermachen. Anstatt zu sagen: Okay, das war, aber wir müssen auch Räume schaffen, um nicht nur das mitzuziehen, was unintegriert ist.

    Ich habe einen Vortrag von dir gehört, in dem du gesagt hast, dass Spiritualität auch missbraucht werden kann, um sich in eine schönere, heilere Zukunft zu beamen. Da ist doch so viel Schmerzhaftes in den letzten drei Jahren passiert, und keiner hat Interesse daran, Heilungsräume zu schaffen. Da bin ich manchmal erschüttert, dass auch unsere Generation sich nicht anders verhält als die unserer Eltern oder Großeltern nach dem Krieg. Es fühlt sich für mich wie eine Wiederholung an. Wie können wir diese Räume schaffen?

    Sigmund Freud hat schon gesagt, dass Traumata einen Wiederholungszwang auslösen. Das, was wir uns aus der Vergangenheit nicht anschauen, wird in der Zukunft reproduziert. Die unbewusste Vergangenheit wird sich durch uns wieder neu auflegen. In dem Moment, in dem mir das bewusst wird, kann ich sagen, dass es schmerzhaft war und ich etwas Zeit brauche, aber irgendwann ist es wichtig, aufzuarbeiten. Wir schaffen zum Beispiel fazilitierte Räume der Aufarbeitung, in denen wir einen Dialog entstehen lassen können. In diesen Räumen muss erst einmal ein Vertrauensraum geschaffen werden, in dem meine Befindlichkeit einen Wert hat. Dass darin erst einmal ein Verdauungsvorgang entstehen kann, ist wichtig. Noch einmal: Es geht nicht darum, wer Recht hat, sondern dass wir uns fragen: Was lernen wir aus dieser Zeit?

    Selbst wenn manche Menschen sagen: „Lass mich in Ruhe damit!“, ist das okay. Dann müssen wir einen Verdauungsraum schaffen mit den Menschen, die offen sind. Und dann ist es wie im Wasser, dann bilden sich konzentrische Kreise. Wir müssen nicht die überzeugen, die es nicht wollen. Aber es gibt genug, die es wollen, und die offen sind zu reflektieren, worin der Lernprozess besteht. Ich glaube, wann immer sich Menschen bereiterklären, etwas aufzuarbeiten, ist dies bereits ein Dienst an der Menschheit und hat auch einen kollektiven Effekt.

    Mir kommt gerade Thich Nhat Hanh in den Sinn, der so wie du auch immer vom tiefen Zuhören spricht. Ich mag seine Metapher, dass ein Boot in einem Sturm nicht sinkt, wenn man darin ruhig bleibt.

    Ich möchte auch noch einmal auf die spirituelle Praxis eingehen. Sie kann sehr tief integrativ sein, wenn wir die Vergangenheit mit einbeziehen. Das betrifft meine Vergangenheit, die meiner Ahnen und die kollektive Vergangenheit. Es geht also darum, dass wir das Unverarbeitete miteinbeziehen. Natürlich können wir versuchen, uns durch die spirituelle Praxis wohlzufühlen. Wenn wir beides machen – uns wohlfühlen und uns gleichzeitig den schmerzhaften Bereichen zuzuwenden –, ist es gut. Meine Bewusstheit soll dazu beitragen, dass ich mich noch mehr in die Welt geben kann und noch mehr Liebe in die Welt bringen kann.
    Ich glaube auch, dass wir manchmal in spirituellen Kreisen sehen, dass diese Aufarbeitung nicht passiert. Das wird ja auch als spiritueller Bypass bezeichnet. Man hat eine spirituelle Praxis, die wie eine Umgehungsstraße ist. Dann ist es so, als wenn man immer wieder eine Schmerztablette nehmen muss. Das ist langfristig nicht nachhaltig und transformiert unsere Welt nicht.

    In meinem Buch habe ich auch geschrieben, dass wir, wenn wir uns der kollektiven Aufarbeitung widmen, die ethische Entwicklung machen, die wir noch nicht gemacht haben, weil wir uns dem, was passiert ist, noch nicht tief gewidmet haben. Dann kann nämlich auch das ethische Lernen nicht stattfinden. Das fehlt uns, wenn wir uns der künstlichen Intelligenz oder genetischer Manipulation und allen möglichen wissenschaftlichen Möglichkeiten zuwenden. Aber es braucht diese Ethik unbedingt, damit nicht eine neue Welle von Traumatisierung passiert. Deshalb ist es wichtig, sich immer wieder zu fragen: Ist meine Praxis holistisch? Oder dient mir meine Praxis dazu, mich aus der Welt wegzustehlen und mich nicht mit dem schwierigen Teil des Lebens zu konfrontieren? Der schwierige Teil ist aber auch Teil eines Bewusstseinsprozesses.

    Ich finde deinen Gedanken mit der Ethik sehr schön. Ich glaube, dass Mut ein ganz wichtiger Aspekt ist und dem Weg der Selbsterkenntnis vorausgeht. Es erfordert Mut, sich auch den eigenen schwierigen Anteilen zu stellen und die eigenen Schwächen zu sehen, anstatt – wie es derzeit immer häufiger in den sozialen Medien passiert – ein Bild von mir zu präsentieren, welches nicht mit der Realität übereinstimmt.

    Ich bin da ganz bei dir. Ich glaube, dass Yoga und andere spirituellen Praktiken viel zu unserer Gesundheit und zum Wohlbefinden beitragen. Gleichzeitig sehen wir auch oft ein Pathologisieren auf das, was fehlt, was wehtut, wo ich leide. Das Wort „Schwäche“ zeigt ja schon, dass wir diese Teile nicht so mit einbeziehen können wie die Teile, wo wir brillieren. In der Trauma-Arbeit sehen wir, dass alle Mechanismen, die mich gut aussehen lassen, gerne aktiviert werden. Viel lieber, als wenn ich mir eingestehe, dass ich etwas nicht kann, oder wo ich nicht verkörpert bin, wo ich mich schwerer im Körper spüren kann, mich nicht so elastisch oder dynamisch fühle. Aber auch diese Teile sind meine eigene Intelligenz und haben mich irgendwann in meinem Leben geschützt.
    Wenn wir Muster in unserem Leben sehen, die immer wieder auftauchen, haben diese Muster einen Grund. Wenn wir als Gesellschaft einen nicht-pathologisierenden Blick darauf werfen, sind das alles sehr interessante Anteile. Dann sind meine Ängste alles interessante Anteile, die zu erforschen sich lohnt. Wir beschäftigen uns nicht damit, um darüber hinwegzukommen, sondern weil sie Teil meines Lebens sind. Und es braucht meine Aufmerksamkeit, mich diesen Anteilen zuzuwenden – genau die gleiche Aufmerksamkeit, die ich den Dingen schenke, welche ich in die Welt bringen möchte. Wenn wir diesen Blick füreinander hinbekommen und uns gegenseitig weniger pathologisieren und mehr die positiven und intelligenten Anteile in dem sehen, was nicht ganz funktional erscheint, entsteht ein Gesellschaftsraum, der viel schneller integrierend ist. Da ist auch viel kollektive Arbeit zu tun. Mehr Aufklärungsarbeit für die Teile, die ich als schwach in mir sehe. Die brauchen eine Erforschung, das ist wichtig.

    Auch ein spannender Aspekt. Wenn Menschen über schmerzvolle oder „unvollkommene“ Anteile hinwegkommen wollen, sagen sie oft Sätze wie: „Wenn ich mit diesem Prozess fertig bin, bin ich durch, und es gibt keine Probleme mehr.“ Wir glauben an die Selbstoptimierung. Ist das nicht die größte Möhre, die wir auf dem spirituellen Weg haben?

    Genau. Da ist ja schon ein Anzeichen dafür, dass etwas Traumatisches vorliegt. Das heißt, dass bedingt durch das Trauma das, was hier gerade in Raum und Zeit passiert, nicht gut für mich ist. Es heißt, dass es zu viel ist und ich mich abkapseln muss. Das schafft ein Folgesymptom, das mir einsuggeriert, dass es irgendwann später besser wird. Ich glaube, ganz viel in der spirituellen Arbeit ist auch eine Reproduktion davon, dass es nachher besser ist, und dass es schon besser wird, wenn ich mich nur mit meiner Heilung beschäftige. Wir alle wurden aber in eine Kultur hineingeboren, die traumatisiert ist. Diese Schwierigkeiten sind Teil des Lebens. Wenn ich eine Beziehung zu den Dingen entwickle, dann ist nicht das Danach wichtig, sondern vielmehr, wie ich mich auf etwas beziehe und wie ich meinen Weg gehe. Dann wird mir klar, dass wir die Traumadynamik fortsetzen und die Möhre in den Erleuchtungsweg einbauen. Das Göttliche ist schon hier. Aber wir sind nicht immer hier. Weil das Hier zu oft überfordernd war. Diesen Switch hinzubekommen, dass uns dies bewusster wird, ist ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit. Dann lassen wir uns auch viel tiefer auf das Leben ein. Wenn die Erleuchtung irgendwo da vorne ist, wäre ja bereits unser Gespräch etwas, was mich dabei aufhält, mich ganz auf das Jetzt einzulassen. Das tiefe Zuhören kann ich nur, wenn ich mich ganz einlasse auf dich. Die Erleuchtung findet ja schon jetzt zwischen uns statt. Es ist wichtig, dass dies kein intellektuelles Konzept ist, sondern zu einem Erleben wird.

    … Und uns durchdringt. In dem Moment, in dem wir die Möhre loslassen können, löst sich auch das Ziel auf.

    Das heißt nicht, dass wir keine Praxis machen sollen – ganz im Gegenteil, tiefe Praxis ist wichtig. Aber wir beginnen, diese Dynamik des Später zu durchleuchten, dass viel mehr von dem, was hier stattfindet – sowohl im Schönen als auch im Schmerzhaften –, von uns umarmt werden kann. Ich finde, das ist ein total wichtiges Thema. Das ist Liebe.

    Absolut. Darum finde ich die Arbeit von dir und anderen Traumatherapeuten wie Bessel van der Kolk, Gabor Maté etc. so wichtig, damit ein verkörpertes Erwachen entstehen passen. Auch ich hatte lange kein Wissen um mein traumatisiertes Nervensystem was dazu führte, dass ich tiefste Erfahrungen von Nondualität hatte, sie aber nicht halten konnte. Es hat lange gedauert, bis ich erkannt habe, dass ich einen Körper brauche, damit verkörperte Erleuchtung entstehen kann. Das war ein langer Prozess. Und es überfordert mich auch heute noch manchmal, wenn ich zum Beispiel in einem Retreat an die Grenze meines Nervensystems komme.

    Ich finde die Beschreibung sehr schön und sehe es bei vielen Meditierenden in meinen Kursen, dass dieser Basisstress und ein überfordertes Nervensystem irgendwann immer zu einer Schwierigkeit werden. Es heißt ja nur, dass wir diese Verankerung schaffen sollten, damit das Erwachen verkörpert sein kann.

    Der Ruf nach einer traumainformierten Yogalehrerausbildung wird lauter. Und auch, dass wir lernen, dass wir die frühkindlichen Speicherungen und unsere Ahnentraumatisierungen in uns tragen. Und dass wir verstehen, was für Auswirkungen das auf unseren Körper und auf das Kundalini-Erwachen hat, und dass sie jahrelang damit zu tun haben.
    Wenn wir diese Welten miteinander verbinden können, kann ein enorm starker Boost entstehen. Wenn ich mich dann wieder rückverbinden kann auf den Teil, der frei ist, und nicht in einer Traumatisierung hängenbleibe, dann ist es wunderbar. Wenn wir erkennen, dass Trauma in den Emotionen und im Körper sitzt, in unserer Spiritualität sitzt, und beginnen, das wieder mehr wahrzunehmen, und dieses Wissen dann mit dem ewigen Teil in uns verbinden, kann das sehr unterstützend sein. Das sehe ich auch immer wieder in unseren Gruppen.

    Wie kann man hier und heute anfangen, zu praktizieren?

    Was wir machen können, ist, uns immer wieder auf unseren eigenen Erfahrungsraum einzustimmen. Es gibt eine einfache Praxis: Ein paar Mal am Tag für ein paar Minuten den Atem länger werden lassen. Mich mit dem Atem in meinen Körper sinken lassen. Wo nehme ich mich wahr? Wo nehme ich mich nicht wahr? Wo ist die meiste Lebendigkeit in mir? Ich nehme den Kontakt mit dem Boden wahr. Wenn ich ein gutes Gefühl zum Körper habe, kann ich mich fragen, was ich emotional wahrnehme. Was kann ich benennen? Wenn ich es nicht benennen kann, ist es auch okay. Dann kann ich erkennen, dass ich vielleicht ein wenig überfordert bin. Zudem kann ich auch schauen, was mein Verstand macht. Wie fühle ich mich beziehungsmäßig? Fühle ich mich auf meine Umwelt bezogen? Es geht nicht um ein „Sollen“, sondern um den Prozess, der wirklich stattfindet. Was in mir ist sich bewusst? Bin ich mir bewusst, dass ich mich spüre? Was genau ist sich bewusst, dass ich mir bewusst bin. Diese Übung kann man gut über den Tag verteilt einige Male wiederholen. Dadurch entwickle ich ein Gefühl für meine innere Kohärenz. Wenn ich mich und den Stress in mir bewusster erlebe, kann er sich senken, und dann wird es auch stiller in mir.

    Herzlichen Dank für das Interview!

    thomashuebl.com

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